was heisst hier anstand?

was war das nochmal: anstand? als klugen beobachter und cleveren psychologe in erziehungsfragen kennen einige axel hacke. jetzt holt der autor und kolumnist in zeiten galoppierender verrohung einen leicht angestaubten begriff aus der mottenkiste mit den vergessenen umgangsformen: anstand!

„Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen:“ Axel Hacke hat mit seinem Buch den Begriff des Anstandes in die Diskussion um die Zukunft der Demokratie geworfen. Wie leben wir in aufwühlenden Zeiten, in denen die Grundlagen unseres bisherigen Zusammenlebens bedroht werden? In denen die Leitplanken und Grundwerte einer offenen Gesellschaft und liberalen Demokratie in Frage gestellt werden? „Anstand“ – dieser moralische, zunächst verstaubt klingende Begriff, der eher an die Regeln des Knigge als an radikales Demokratieverständnis denken lässt – ist trotz seiner Unschärfe ein taugliches hochaktuelles Instrument zur Verständigung über die Zukunft der demokratischen Kultur. Anstand verweist auf gemeinsame Werte, gemeinsame Verantwortung, das Gemeinwohl und den zugrunde liegenden Gesellschaftsvertrag.

Anstand setzt zum Beispiel in der Demokratie ein Mindestmaß an Gleichheit und Gerechtigkeit voraus, ökonomische Ungleichheit – wie sie sich gerade in Deutschland und Europa entwickelt – hat den Verlust von Anstand zur Folge.

Eine weitere Grundlage von Anstand ist die Unantastbarkeit der menschlichen Würde und die universelle Gültigkeit der Menschenrechte. Aber mit den Debatten um die Migration, flüchtende Menschen und Außengrenzen verschiebt sich gerade das Verständnis der Menschenrechte. Gelten sie nur noch für uns, innerhalb der europäischen Grenzen? Und wenn sie außen nicht mehr gelten, gelten sie dann innen noch?

„ttt“ hat mit Axel Hacke, Joseph Vogl und Harald Welzer über Anstand gesprochen. Eine moralische Debatte über die Fragen, auf die es wirklich ankommt. Denn vielleicht sollten wir mal innehalten und gründlich nachdenken: Was heißt hier eigentlich Anstand?

„Staunen über die wachsende Inhumanität“
Axel Hacke hat den moralischen Begriff in die politische Debatte geworfen. Ihm geht es um den fehlenden Anstand: „Es hat Zeiten gegeben, in denen die politischen Auseinandersetzungen vielleicht heftiger waren als heute. Man hat jedoch gewisse Grenzen nicht überschritten. Es gab Politiker, die waren im Amt, obwohl sie Lügner waren und Menschen beleidigt hatten. Nun ist einer US-Präsident, weil er ein Lügner und Beleidiger ist. Es reicht vielleicht in Erinnerung zu rufen, wie Mister Trump vor Publikum einen kranken und deshalb körperlich behinderten Journalisten nachäffte. Man hat sich gewöhnt, nicht wahr? Die Gefahr ist doch, dass da Dinge einfach salonfähig werden, die nicht salonfähig sein sollten, dass man sich an Dinge gewöhnt, an die man sich nicht gewöhnen sollte.“

Es ist das Staunen über die wachsende Inhumanität, die Hacke bewegt. Verhaltensweisen, die das Unzivilisierte einsickern lassen, die neue Normen setzen, und – die moralische Substanz der demokratischen Gesellschaft untergraben: „Und dann kommt dazu, dass man oft auch im Alltag einem Umgangston begegnet, der doch in dieser Aggressivität irgendwie neu ist. Und ich finde, das kann man eigentlich so auf Dauer nicht hinnehmen“, sagt er.

„Prinzipielle Solidarität mit anderen Menschen“
Axel Hacke geht es um unsere Leitplanken und Grundwerte. Wenn er von Anstand spricht, dann meint er aber auch eine Alltagsmoral, die immer auch die anderen mitdenkt: „Das hat ja ganz viel mit Interesse an anderen Menschen auch zu tun. Mit einem gewissen Wohlwollen, das man ihnen entgegenbringt. Dass es so etwas wie eine prinzipielle Solidarität mit anderen Menschen gibt. Immer erst mal das Gefühl auch zu haben, dass wir alle ein Schicksal teilen, dass wir insofern ja zusammen gehören, als jeder von uns klein zur Welt kommt, sich durchs Leben ackern muss und am Schluss müssen wir alle sterben.“

„Da geht es tatsächlich nur um das Recht des Stärkeren“
Was also ist passiert? Mit dem Anstand, den Menschen, der gemeinsamen Verantwortung. Dem Gemeinwohl? Während die Wirtschaft brummt und es uns so gut geht wie nie zuvor? Müssen wir uns wundern? „Nein, da muss man sich überhaupt nicht wundern“, sagt Harald Welzer. „Da muss man nur mal die Wirtschaftsseiten in den Tageszeitungen lesen: Alle Begrifflichkeiten von Wettbewerb, Angriff, Krieg und so weiter und so weiter. Also da geht es tatsächlich nur um das Recht des Stärkeren und das wird auch positiv so gewissermaßen kommuniziert.“

Das Fatale: Diese Prinzipien des Marktes bestimmen zunehmend auch unser alltägliches Zusammenleben – sie werden einfach normal. Und sogar: wertgeschätzt.

Kardinallaster als produktive soziale Verhaltensweisen
„Ich denke, es ist immer noch bemerkenswert festzustellen, dass bis ins 17. Jahrhundert man von Kardinallastern ausgegangen ist, die nun tatsächlich auch eine absolute Grenze, auch eine absolute moralische Grenze darstellten: Geiz oder Gier oder Wollust oder Verschwendung etc. Und man kann bemerken, dass diese Kardinallaster mehr und mehr zu produktiven sozialen Verhaltensweisen geworden sind“, sagt Joseph Vogl.

Harald Welzer ergänzt: „Ich würde sagen, da ist die Kultur inzwischen tief durchdrungen davon. Man kann das in der Werbung sehen, wenn die Postbank mit dem legendären Slogan ‚Unterm Strich zähl ich‘ wirbt, formuliert sie genau dieses antisoziale Prinzip: dass es keinerlei Rücksichtnahme bedarf. Unterm Strich zähle halt ich.“

„Jenseits jeder Anstandsregel adressiert“
Und ich bin halt nur so viel wert, wie ich mir kaufen kann.

„Dazu kommt natürlich auch“, so Vogl, „dass der Konsument etwas ist, das immer von seiner niedrigsten, man könnte vielleicht sogar sagen: niederträchtigsten Seite adressiert wird. Und das heißt, er ist geizig, er ist ein bisschen geil, es ist die Regentschaft des Appetitiven, man muss zuschnappen, Schnäppchen jagen etc. Das heißt, der Konsument ist einer, der jenseits jeder Anstandsregel adressiert wird.“

„Mehr Aggressivität, mehr Ausgrenzungswünsche“
Jeder für sich, beschäftigt mit Distinktion, der Abgrenzung nach unten und dem Wunsch ganz oben dazu zu gehören.

„Mit Robert Musil könnte man sagen: Wir befinden uns irgendwie in einer Situation, in der die Abneigung aller gegen alle zu einer Art Gemeinschaftsgefühl geworden ist. Und auch das, glaube ich, ändert ganz konsequent Umgangsformen“, so Vogl.

„Wenn man alleine die Begrifflichkeiten des Alltags so mal so durchmustert“, so Welzer, „wo Kategorien von Ausgrenzung, von radikalisierten Wettbewerb, von höher und geringer Bewerten von Personengruppen, von Aggressionen gegenüber denen, die vermeintlich nicht dazugehören und sowas so durchmustert: Ich glaube wenn man das wissenschaftlich betreiben würde, würde man innerhalb der letzten zehn Jahre eine deutliche Veränderung hin zu mehr Aggressivität, mehr Ausgrenzungswünschen und mehr Hochbewertung der Eigengruppe finden.“

„Ökonomie hat das absolute Primat“
Zukunftsangst und soziale Ungleichheit – beides führt zum Verlust von Anstand. Zum historischen Zurück. Zurück zu Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit: „Im Augenblick hat man das Gefühl, dass sehr viele Parteien die Ressource des Ressentiments als neues politisches Kapital entdeckt haben, das lässt sich kapitalisieren. Und dazu gehören natürlich auch ausgeflaggte Gesten der Unmenschlichkeit, also Abschiebungen vor den Bundestagswahlen, die nicht einfach klammheimlich, sondern die öffentlich angekündigt werden, so dass auch die Geste für jederman, der das lesen will, erkennbar ist“, so Vogl.

Gesten, die moralische Grenzen verschieben. Aber, wenn die Menschenrechte nur noch für uns und nicht für die anderen gelten, werden sie auch innerhalb Europas bald keine Geltung mehr haben. Doch das entscheidende Thema: „Wir haben halt das große Problem gegenwärtig, dass Ökonomie das absolute Primat hat. Dass alles sich nur davon ableitet, dass irgendwie die Wirtschaft floriert – und das noch sozusagen auf der Nullintelligenzstufe Wirtschaft funktioniert: dann, wenn sie Wachstum produziert. Nun ist das Wachstum aber genau das, was unsere Umwelt und dementsprechend unsere Lebensbedingungen zerstört. So, und wenn das zerstört wird, dann schlägt sich auf der Ebene des Verhaltens es genau nieder, dass das Konkurrenzbedürfnis größer wird. Weil es ist ja klar: Alle werden das Rennen nicht gewinnen“, so Welzer.

Im Gegenteil: 1,2 Millionen Millionäre leben gerade in Deutschland, während 40% der Beschäftigten heute real weniger verdienen als vor 20 Jahren.

In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben?

„Soll sie integrativ sein?“, fragt Welzer. „Soll sie tatsächlich der Norm folgen, dass niemand zurückgelassen wird – was die zentrale aufklärerische Norm ist? Oder folgt sie Modellen, dass es vollkommen egal ist, dass es Überflüssige gibt, dass man Menschen abhängen kann usw. und die dann hinterher irgendwie ihre eigenen Probleme haben und Gesellschaft muss sich nicht darum kümmern?“

„Wieso? Das ist doch legal!“
Dann allerdings ginge der Anstand baden. „Das ist das große Problem, mit dem wir es heute zu tun haben“, so Hacke. „Wie halten wir eigentlich eine Gesellschaft zusammen, die sozusagen einmal sozial auseinander fällt, weil Reichtum unglaublich zunimmt, weil große Firmen, internationale Firmen einfach keinen Beitrag mehr leisten wollen, keine Steuern mehr zahlen? Weil auf der anderen Seite am anderen Ende der Gesellschaft Armut zunimmt? Wenn man heute sagt: Das tut man doch nicht! Dann kommt die Antwort: Wieso? Das ist doch legal! Meiner Meinung nach wird es Zeit, diese weichen Werte näher zu beleuchten. Sie sind es, die das Leben lebenswert machen, nicht die Gesetze. Wir haben in vielerlei Hinsicht das Gefühl dafür verloren, was es bedeutet, eine Gesellschaft zu sein, zusammen zu gehören, sich auseinanderzusetzen. Wir haben so oft kein Ideal mehr davon, was es bedeutet, ein Bürger zu sein.“ quelle: ttt

12 Gedanken zu „was heisst hier anstand?

  1. Danke für diesen umfassenden Beitrag!!

    Ich glaube dieser Wandel ist ein Zeichen dafür, dass es uns zu gut geht… vielleicht zu gut wie nie zuvor…
    Nur müssen wir nicht immer einen „Feind“ haben? Wo kommen wir her… ? Wir haben als Menschen immer aggressiv Kriege geführt, andere unterdrückt oder wurden unterdrückt. Wohin mit der Energie, wenn das wegfällt? Irgendwo habe ich mal gelesen, das nannte sich „Parallelogramm der Kräfte“. Dessen Seiten sind verbunden und zieht man an einer Stelle, um sie zu verbessern, dann wird sie andre Seite nachgezogen und verschlechtert sich… es wird ein „Gleichgewicht“ hergestellt, eins das vielleicht nicht so offensichtlich ist und dann sich latent den Weg sucht…
    Dabei sollte man sich wohl bewusst machen, dass das Gute immer seinen Preis haben wird, auch wenn man das gern vermeiden würde…

    Denn wieviel Gutes können wir wirklich auch ertragen? Versuchen wir nicht immer auch wieder einen Zustand herzustellen, in dem wir was zu meckern oder zu leiden haben… ?

    Liebe Grüße

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  2. Das ist einer der Gründe, warum ich nicht mehr auf Facebook bin. Der Umgang dort lässt viel zu wünschen übrig. Besonders im amerikanischen Bereich. Die werfen sich Worte an den Kopf wie idiot, moron, imbecile, sheeple usw. Da gibt es keinen Diskussionsbeitrag, der nicht irgendwie in einem Schimpfwort endet. Das ist schon mehr als mangelnder Respekt, das ist schon Verachtung des Gegenüber.
    Und im deutschsprachigen Raum passiert das auch. Alle finden, dass sie selber die einzigen sind, die den Durchblick haben und die anderen sind die blinden Schafe, besonders, wenn sie eine abweichende Meinung vertreten (also abweichend von der eigenen). Wenn alle Seiten diese Haltung haben, ist ein intelligenter Dialog bereits völlig unmöglich, dann wird nur noch in Phrasen gedroschen.

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    • Liebe Stella,
      es wird auf Facebook oft wirklich unter der Gürtellinie und mit viel Dummheit, Frechheit und Schamlosigkeit kommentiert. Und ehrlich gesagt, ich konnte mir auch etliche Male nicht verkneifen, jemanden als dummen, oberflächlichen Menschen zu betiteln. Natürlich verwende ich keine Schimpfworte, sonst würde ich mich ja auf die gleiche Stufe stellen, das ist nicht so mein Ding. Aber da ich rot sehe, wenn im Tierschutz ekelhafte Meinungen kommen, die das Tierleid verächtlich abtun oder die Tierschützer mit bösen Wörtern bedenken, konnte ich nicht umhin. Meistens denke ich mir jedoch, entsetzlich, wie viele empathielose Menschen rumlaufen, die kein Wort wert sind, weil sowieso nichts bis zu den grauen Hirnwindungen vordringt.

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      • Entschuldige, daß ich jetzt gelikt habe😊 Ist vielleicht nicht angebracht, aber du bist sicher nicht tieftraurig, weil dich FB gesperrt hat☺️Aber ich mußte jetzt sehr lachen, weil es schon wieder traurig, lächerlich und dumm ist und nicht zu fassen ist, wie blöde die dort agieren! Du glaubst es ja nicht, gibt’s denn nix Schlimmeres auf FB?

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  3. Es hat alles mit Wertschätzung Anderen gegenüber zu tun. Anstand ist wirklich ein eingestaubter Begriff, aber für mich immer noch gültig. Es gibt viele Dinge, die erlaubt sind, trotzdem nicht anständig sind auch wenn sie einer beknackten Norm entsprechen.
    Aber wenn wir uns die Gesellschaft heute mal anschauen… es gibt immer weniger anständige Menschen. Immer nur ich, dann ich und dann vielleicht mal Andere…

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  4. Was das Gesetz nicht verbietet, verbietet der Anstand (Seneca)

    Moralbegriffe werden schon lange nicht mehr geachtet – bald wird auch das Wort ANSTAND nicht mehr verstanden werden. Die Ellenbogengesellschaft und das „Ichzuerst“ nehmen überhand, Trump paßt also sehr gut in das zukünftige Sozialverhalten der Menschheit.

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